Zu Gast beim Vorreiter des Additiven Designs
Er setzt Stühle, Tische und Kronleuchter in Bewegung. In seinen Prototypen, Studien und Produkten werden Robotik, Design und Architektur eng miteinander verflechtet. Stephan Henrich nutzt die additive Fertigung pionierhaft als Designwerkzeug für Möbel, Objekte oder Anlagen.
Es sieht aus wie an einem Hang in San Francisco, ist aber ein Altbauquartier in Stuttgart. Ein Paravent verwehrt den Blick durch das Schaufenster im Erdgeschoss, aus gutem Grund: Ideen und Konzepte mit Potenzial, die noch nicht alle patentrechtlich abgesichert sind, finden sich im Atelier. Handskizzen, auf Papier ausgedruckte Renderings oder 3D-gedruckte Prototypen dürfen öffentlich nicht gezeigt werden, so wollen es auch die Partner, darunter renommierte Technologie-Unternehmen.
Diese Strasse in Stuttgart führt zu Henrichs Atelier.
Stephan Henrich macht sich einen Espresso und beginnt zu erzählen. Er ist die Ruhe in Person, formuliert überlegt. Vielleicht interessiert sich der Designer und Dozent gerade deshalb für das Dynamische, für das Verwirrende, für das Unmittelbare. Seine „roboterisierten“ Möbel walten als Kontrapunkt zu der sonst so statischen Architektur – mit Ausnahme der obligatorischen beweglichen Elemente wie Türen und Liften. Die Werke reden eine eigene Sprache, die aber erstaunlicherweise von allen verstanden wird: Vom Ästheten über den Technikbegeisterten bis hin zum Künstler oder Bankier. Stephan Henrich ist weltweit vermutlich der interessanteste Designer, der die 3D-Druck-Technologie an seinen Werken mit-entwerfen lässt. Als Pionier des „additiven Designs“ doziert er Architektur und Design an mehreren Universitäten – zuletzt an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart.
Stephan Henrich an seinem Arbeitsplatz.
Von Kreaturen fasziniert
Der in seiner Ausbildung zum Architekten erfahrene Fokus auf die Statik erweiterte Stephan Henrich um die Kinematik. Pragmatische Ansätze wie „die Form folgt der Funktion“ haben bei seinem Schaffen nie das letzte Wort. Konventionen sind zum Hinterfragen da – so entsteht Neues. Der Ausstattungsbereich soll dynamisch sein. So bringt er Robotik, die sich selbst transformiert und sich an die Umgebung anpasst, in die Architektur.
Der Designer interessiert sich für kreatürliche Objekte, die sich bewegen.
Seien es huf-artige Fussgelenke, die einen Tisch auf unebenem Boden nivellieren, oder sich krakenhaft in Zeitlupe bewegende Kronleuchter (für Lokalbesitzer mit Anspruch), der Ideenreichtum von Stephan Henrich reicht weit. Bezeichnenderweise ist das Mechanische und Kreatürliche ein wiederkehrendes Motiv in seinen Werken. Dazu sagt Stephan Henrich: „Ich will keine toten Geräte entwickeln.“ Die Inspiration des Lebendigen, das er in die Architektur und Technik bringt, holt er sich aus der Natur. Die Formen, die z.B aus der Bionik resultieren würden sehr gut zum 3D-Druck passen, meint er.
Die Möbelstücke erzählen Geschichten über ihre Bewegung. Objekte, die sich verschieben oder transformieren, könnten animiert sein. „Die Roboter erscheinen uns eben auch wie Kreaturen.“ Manchmal fordern sie auch ihre Benutzer heraus, wie die spinnenartigen Leichtbaustrukturen mit Verästelungen und Beinen, die auch Fallen sein könnten.
Perfekte Symbiose mit additiven Technologien
Die Faszination am Geschöpf lässt sich perfekt kombinieren mit der additiven Fertigung. Wie kein anderer nutzt Stephan Henrich die Eigenheiten der 3D-Druck-Technologie. Typisch sind seine eleganten Designs aus ineinander verflochtenen Strukturen. Additiv gefertigte Formen, die mit keiner anderen 3D-Druck-Technologie herstellbar sind als mittels dem selektiven Lasersintern (SLS). Das Verfahren eignet sich daher hervorragend für ineinander gedruckte Teile, die sich bewegen. Die Realisation solcher Designs wäre beispielsweise via FDM-Verfahren (Fused Deposition Modeling) unmöglich.
Auf das selektive Lasersintern kam Stephan Henrich zufälligerweise. Ein Pariser Architekturbüro, in dem er arbeitete, produzierte riesige SLS-Modelle für Forschungszwecke. „Da hat mich der Zauber gepackt. Ich habe mich in diese Technologie hineingestürzt und begonnen, ‚additiv‘ zu denken. Über die Jahre habe ich mich mit dem Entwerfen von SLS-Designs vertraut gemacht.“
Neben der Natur lässt er sich auch von den Eigenheiten von additive Fertigungsverfahren inspirieren.
Materialeigenschaften ausloten
Um die stilvoll geformten 3D-Strukturen zu perfektionieren, setzt Stephan Henrich Simulationssoftware ein. Bei der Kreation von Dingen scheut sich der Designer nicht vor Hilfsmitteln. „Meine erste Befreiung war das Aufkommen der 3D-Modellierung. Die zweite Befreiung war dann der 3D-Druck, dessen verfahrenstechnische Eigenheiten den Designprozess oft helfen mitzugestalten.“
Dabei ist das auf Erfahrung aufgebaute Wissen über die Materialeigenschaften von zentraler Bedeutung. Ab welchem Durchmesser wird das Material flexibel? Wie dünn muss die Wandstärke ausgelegt sein, um das Objekt flexibel zu machen, ohne dass es bricht? All dieses Know-how fliesst im Schaffungsprozess früh ein. Erst in einem letzten Schliff wird das Design auch noch optisch optimiert.
Solche Dinge hat die Welt noch nicht gesehen: Diese Struktur für textile Komponenten wurde sowohl aus Sintratec PA12 als auch Sintratec TPE gedruckt.
Ein lasergesintertes Portemonnaie
Das lasergesinterte Portemonnaie bestätigt dieses Wissen besonders. Die Erfindung besteht aus einer einzigen Komponente und wird daher in nur einem Vorgang 3D-gedruckt. Mit der Kombination von stabilen und flexiblen Partien schafft Stephan Henrich Funktionen: Zwei einschnappende Lippen sorgen für den Verschluss des „Geldbeutels“ und eine mechanische Genialität stösst die Kreditkarte sanft an, damit sie aus dem Fach ragt und herausgezogen werden kann.
Das Praktische daran: Aufgrund der ineinander verflochtenen Struktur sieht man auch im verschlossenen Zustand, wie viel Geld drin ist. Dank der Stretch-Eigenschaft lässt sich das Portemonnaie auch bequem tragen. Die gegenläufig ineinander-gewundenen Maschen auf zwei Schichten bilden eine Art Meta-Struktur mit optischem Effekt.
Ist in einem Zug 3D gedruckt: Das lasergesinterte Portemonnaie.
„Sintratec S2“: Der nächste Schritt
Ob pentagonale oder hexagonale Strukturen, Stephan Henrich interessiert sich letzten Endes für funktionale Druckteile. Treiber bei der Entwicklung seiner Designs ist mitunter die grosse Konstruktionsfreiheit, welche die SLS-Technologie erlaubt. Die Möglichkeit des umgehenden Testens von 3D-Druck-Teilen erachtet er auch als wichtigen Vorteil.
Was denn seine Anforderungen an ein SLS-System waren? „Ich möchte eine leicht bedienbare Maschine, die nicht viel Platz einnimmt und daher gut in mein Atelier passt.“ Als langjähriger Kunde wird Stephan Henrich zu einer der ersten Anwender des neuen 3D-Druck-Systems „Sintratec S2“ gehören.
“SLS könnte zu einer Denkweise für Design werden.”
Stephan Henrich
Designer und Dozent
Robotikdesign und Architektur